Fashia Kantarci
Während Fasiha Kantarcis erstem Besuch in Caux 1967 durchlief die Türkei eine kritische Phase. Schwere Jugendrevolten an Universitäten und Fachhochschulen in Ankara, Istanbul und Izmir, ihrem damaligen Wohnort. Die Kurdenfrage war akuter denn je. Enorme Zuwanderung aus dem Osten gegen die Städte an der Westküste, die damit nicht fertig werden konnten.
Aber auch Fasiha selbst ging durch eine schwere Lebenskrise. Kurz zuvor hatte sie ihren geliebten Gatten unerwartet durch eine Herzattacke verloren. Zusätzlich zu ihrer tiefen T rauer war ihr Herz voll Bitterkeit und Anklage gegen Ihre Ex-Schwiegertochter. Weder ihr Mann noch sie hatten diese je angenommen, ebenso wenig das Kind aus der allzu frühen Ehe ihres Sohnes. Es war während einem erbitterten Telefongespräch mit der Ex-Schwiegertochter als Fasihas Mann zusammenbrach. Fasiha gab ihr die Schuld dafür.
ln Caux teilten Fasiha und ich das Schlafzimmer. Ich hatte meinerseits kurz davor nacheinander meine Eltern, dann nach einer rasanten Leukärnie meinen jüngsten Bruder verloren. Die drei, deren Haushalt ich während der letzten Jahre betreut hatte. Diese gemeinsame Erfahrung des Verlustes von uns Liebsten brachte uns sofort nahe.
Die Türkei war für mich damals ein fremdes Land, ebenso der Glaube, der dort gelebt wurde, der Glaube auch meiner neuen Freundin. Wir erlebten aber in unseren täglichen stillen Zeiten kamen uns beiden Gedanken, die uns weiter halfen. Fasiha nahm hungrig auf, was sie an der Konferenz in Caux hörte, Sie war eine Frau, die auf grosse Visionen ansprach, die ihr Land liebte, bereit auch, einen Preis dafür zu bezahlen. Vor allem die jungen Leute in Caux gaben ihr Hoffnung im Gedanken an die Jungen in ihrem eigenen Land. Mit sich selbst beginnen, das wollte sie. ln ihren stillen Zeiten kam Weisung, mehr und mehr. Schmerzhaft. Aber sie akzeptierte sie. Bevor sie nach Hause zurückkehrte lud sie mich herzlich ein, sie bald in der Türkei zu besuchen.
Als erstes nach ihrer Rückkehr: Aussprache mit ihrer ehemaligen Schwiegertochter. Bitte um Verzeihung für ihren Hass und Aussprache mit ihren Farmilienangehörigen. ln Folge fand sie eine neue Freiheit, Sicht für ihr Land mit konkreten Gedanken, wie in ihrem eigenen Umkreis vorzugehen. Als ich sie im Frühjahr 1969 in Istanbul besuchte, hatte sie nach glücklicher Vereinbarung ihre nun 7-jahrige Enkelin bei sich, deren Mutter wieder verheiratet und berufstätig, froh für diese Hilfe war.
Die politische Lage damals war keineswegs einfach. Die Polizei patroulierte ständig. Ein hoher israelischer Diplomat auf Staatsbesuch war in unserem Quartier ermordet aufgefunden worden. Es folgte volliges Ausgangsverbot zwecks Hausdurchsuchungen. Fasiha bewohnte die 5. Etage der Mittelseite eines U-formigen Blockes. Die Rückseite ging auf einen Innenhof mit den üblichen halbverglasten, halboffenen Balkonen, jetzt, unter dem Umstand des Ausgehverbots und dem schon warmen Frühlingswetter, voll besiedelt. Ein reger Kontakt hin und her. Auch Fasiha beteiligte sich ganz natürlich an diesem Austausch von Balkon zu Balkon. Von da an war ich mit meiner Geschichte bekannt und aufgenommen in einer wohlmeinenden Hausgemeinschaft. Diese Erfahrung brachte mir zum ersten Mal nahe, wie schwierig es oft für Menschen dieser südlichen Kulturen bei uns sein muss mit unserer vorsichtigen Abkapselung zum Schutze unserer Privatsphäre.
Eine Erfahrung, die sich später immer wiederholte, denn meiner ersten Besuchsreise folgten manch weitere mit kleineren und auch grösseren Gruppen. Fasiha kam nun jeden zweiten Sommer nach Caux, um ihr Land zu vertreten und dort mitzuhelfen. Sie kam nie mehr allein, oft begleitet von Jugendlichen, denen sie einen Aufenthalt ermöglichen wollte. Ihre "praktische" Heimat in Caux war das "Housekeeping". Dort, schien ihr, konnte sie die Qualitäten der Gastfreundschaft ihres Landes am besten einbringen. Zugleich befreundete sie sich bei der Zusammenarbeit mit manchen Frauen anderer länder, Infolge kam es auf gegenseitige Einladung zu Gastreisen hin und her. Bei solchen Reisen war verschiedene Glaubenszugehörigkeit nie ein Problem, nie handelte es sich um Proselytenmacherei. Wohl lernten wir im Zusammenleben von einander gegenseitig die Werte und Traditionen des anderen kennen und schätzen. Unsere gemeinsame Basis blieben tägliche stille Zeiten, danach der ehrliche Austausch. Immer auch das Suchen in der Stille, was wir unseren so generösen Gastgebern von unserer Seite zu übermitteln hätten.
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