Im Laufe der Zeit lernen wir immer neues über das Leben und über uns selber. Die Liste der Dinge, die wir bedauern wird länger. Speziell was andere Menschen betrifft. Was wir lieber nicht gesagt oder getan hätten, aber auch was wir versäumt haben zu sagen oder zu tun.
Anne-Katherine‘s Worte über ihre Mutter liessen mich erkennen, dass ich ihr nie gesagt habe, wie sehr ich sie mochte. Sie und Werner waren das Herzstück der glücklichsten Jahre meines Lebens, auf verschiedenste Weise sorglos, aber auch tiefgründig. Zusammen mit Gerhard und Elsi Grob, Luc und Suzie de Montmollin und anderen schufen Rita und Werner in der Villa Maria in Caux einen Rahmen und einen Ort, wo viele junge Leute über das Leben und speziell über das Leben mit einer Verpflichtung lernen konnten. Wir konnten lange genug Einsichten und Erfahrungen gewinnen um einige davon zu den unseren zu machen.
Vielleicht bin ich erst jetzt imstande zu schätzen, was es für Rita und die anderen bedeutet haben muss, ihre persönlichen Wünsche zur Seite zu schieben – wahrscheinlich für immer – um für die Gemeinschaft das moralische und spirituelle Herzstück und Hauseltern zu sein.
Ich zweifle, dass es uns Jungen je bewusst wurde, welch ein Privileg es war dazu zu gehören und zu verstehen, welchen Preis andere dafür bezahlt hatten. Ich erkannte es jedenfalls nicht. Aber ich wünsche ich hätte es erkannt, hätte mehr Fragen gestellt:
Hat Rita es je bedauert, auf ihre Wünsche verzichtet zu haben? Und wenn es so war, wie ging sie damit um? Fühlte sie, dass wir es wert waren? Haben wir uns so entwickelt wie sie hoffte? Sind wir - bin ich - treu geblieben? Auch wenn ich weiss, wie viel ich durch sie und die anderen, die das Herzstück der Gemeinschaft waren, persönlich gelernt habe, ist mir etwas anderes langsam bewusst geworden:
Als ich an Erkenntnis zunahm und einiges an „revolutionärer“ Literatur las, wurde mir klar, dass ich nie so ein weisser Ritter in glänzender Rüstung sein werde, der in Blitzesschnelle eine andere Person (wie ein Buch) „liest“ und sie mit einem oder zwei treffenden Sätzen befreit und auf den rechten Weg bringt. Die paar Male, die ich es versuchte, bin ich kläglich gescheitert. Im Rückblick wurde mir klar, dass meine Berufung, die Welt zu verändern, nicht so sehr das ist, was ich persönlich tue, sondern eher, mit anderen zusammen die praktischen und spirituellen Vorbedingungen für eine (grosse oder kleine) Gemeinschaft zu schaffen, wo Einzelne sich frei fühlen können, ihr Herz zu öffnen. Da kann auch die kleinste Erfahrung weitergegeben werden. Dort geschieht ganz natürlich, dass ich sowohl meine Unzulänglichkeiten als auch meine Freuden, Hoffnungen und Ängste mit anderen teile. Dort werde ich herausgefordert zu lernen, anderen beim Wachsen und beim Erreichen ihrer Ziele zu helfen, anstatt nur meinen Neigungen zu folgen.
Rita, Werner und die anderen haben diese Vorbedingung für Einsicht, Lernen und spirituelles Wachsen geschaffen. Es kostet einiges, das Herzstück einer solchen Gemeinschaft zu sein. Die aufgegebenen Wünsche habe ich erwähnt. Man kann keine Resultate auflisten oder Seelen zählen. Einige kamen in die Villa Maria und es gefiel ihnen nicht. Andere sind wütend oder verletzt davongegangen. Fehler wurden gemacht. Für einige dauert es Jahre, bis sie ihre Berufung entdecken, und diejenigen, die sie unterstützt hatten, sind nicht mehr da, um davon zu hören.
Die meisten von uns fühlen sich nicht fähig, diesen Lebensstil weiterzugeben. Aber ich bin mit ganzem Herzen zum Glauben gekommen: Was wirklich zählt ist, dass ich dieser Berufung treu bleibe. Rita, Werner und die anderen waren treu. Ich möchte, ich hätte ihr gesagt, wie dankbar ich bin und wie viel sie mir bedeutet.
In aller Liebe, Gunnar Söderlund, Märsta, Schweden
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